Fett, etwas Milch, ein paar Stück Zucker, am Großmarkt täglich in aller Frühe bis zu 60.000 Menschen. Theater und Kinos werden gesperrt, vorübergehend auch Schulen. Züge verkehren höchst unregelmäßig, die Fenster der verdreckten Waggons sind zerbrochen. Die Straßenbahn verkürzt ihre Linien, der Stadtbahnverkehr ist überhaupt zum Erliegen gekommen, der Frachtenverkehr wird auf die (keinesfalls hinreichenden) Nahrungsmitteltransporte eingeschränkt, die Fabriken müssen die Produktion immer wieder unterbrechen, weil die E-Werke aufgrund der Unterversorgung mit Kohle keinen Strom mehr liefern können. Und über allem wütet die spanische Grippe, mit besonderer Unerbittlichkeit im letzten Quartal des Jahres 1918. Ihr erlagen Abertausende, die, ausgezehrt, erschöpft, von Hunger und Entbehrung geschwächt, von unzureichender Kleidung nicht geschützt, der Krankheit keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochten ; zu ihren Opfern zählten Victor Adler, Otto Wagner, Gustav Klimt, Egon Schiele.3 Die Sterblichkeitsziffern erreichten traumatische Werte : Auf tausend Todesfälle kommen vierhundert Lebendgeburten, deren Zahl 1913 noch deutlich über 37.000, 1919 hingegen nur 19.600 betrug und damit lediglich 48,4 Prozent, also nicht ganz die Hälfte der Werte des Jahres 1912. Die Quote der Totgeburten, die in den Friedensjahren stetig gesunken war, stieg 1918/1919 massiv an, was nach Meinung des Vorstandes der Abteilung Gesundheitsstatistik im Volksgesundheitsamt, Siegfried Rosenfeld, weniger auf die in Kriegszeiten bei Männern so häufig anzutreffende Infektion mit Syphilis als vielmehr auf die Überlastung der Frauen durch extensiven Arbeitseinsatz in der Kriegsindustrie in Kombination mit anhaltender Unterernährung zurückzuführen war. Auch die Kindersterblichkeit stieg exorbitant an, und zwar im Zeitraum von 1914 bis 1919 um mehr als 30 Prozent.
Der Gesamtverlust, der sich über die Kriegszeit aus einer Zunahme an Todesfällen und einer Abnahme an Lebendgeburten ergibt, liegt weit über 120.000 und entspricht damit der Bevölkerungszahl eines der großen Wiener Flächenbezirke. Nahezu jeder vierte Sterbefall war durch Tuberkulose verursacht, seit 1914 hatte sich deren Anzahl fast verdoppelt, ihr Anteil an der Gesamtsterblichkeit stieg von 16 auf 22,8 Prozent.4 Rosenfeld schließt aus der außergewöhnlichen Zunahme der gefürchteten Wiener Krankheit, dass die Bevölkerung während des Krieges sich in exakt denselben Verhältnissen befunden habe wie die Internierten der berüchtigten Flüchtlingslager. Als Ursachen für die dramatische Zunahme der Sterblichkeit seien hauptsächlich Not und Überarbeitung in Betracht zu ziehen, ähnliche Verheerungen fänden sich nicht einmal in Epidemiezeiten. »Die Not hat grausamer wie manche Pest gewütet.«5 Die Kohlennot begann ihre entsetzlichen Wirkungen zu entfalten. Der neue Kleinstaat hatte einen monatlichen Kohlebedarf von 1.150.000 Tonnen, konnte aus eigener Kraft aber maximal 155.000 Tonnen zumeist minderwertiger Kohle fördern. Hausbrandkohle konnte nicht mehr ausgegeben werden, die frierenden und hungernden
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